
Die Maskenaffäre ist nicht überstanden und die Richterwahl vergeigt: Unionsfraktionschef Jens Spahn steht im Zentrum in der Kritik. Was macht Kanzler Friedrich Merz?
Am Freitagmittag, als alles schiefgegangen war, was schiefgehen konnte, stand die grüne Fraktionschefin Britta Haßelmann im Plenarsaal des Bundestags und rief: „Heute ist ein schlechter Tag für das Parlament, die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht!“ Dann schaute sie direkt zum Chef der Unionsfraktion, der ihr nur wenige Meter entfernt gegenüber saß und setzte fort: „Es ist eine unverantwortliche Situation, in die Sie, Jens Spahn, uns gebracht haben!“
Grüne und Linke klatschten frenetisch. Aber auch viele Abgeordneten des Koalitionspartners SPD applaudierten. Die Bruchlinie der erst vor gut zwei Monaten gebildeten Koalition: Sie war plötzlich deutlich zu erkennen.
Jens Spahn weiß: Da muss er jetzt durch
Spahn senkte den Kopf, verzog leicht den Mund und schaute dann direkt nach vorne, zu Haßelmann. Er wusste: Da musste er jetzt durch.
Doch die Frage ist nicht, ob Spahn die Attacken aus der Opposition übersteht. Die Frage ist: Wird seine Fraktion zu ihm halten? Oder läuft sie vollends auseinander? Schließlich hatte Spahn gerade erst die Wahl von drei Verfassungsrichtern absetzen müssen, weil ihm viele der eigenen Abgeordneten die Gefolgschaft verweigerten.
Nicht nur Spahn ist durch das neuerliche Desaster beschädigt. Auch der Bundeskanzler schaute am Freitag reichlich betrübt von der Regierungsbank. Was wird er tun? Wie geht er nun mit Spahn um?
Nachdem Merz‘ Wahl zum Kanzler im ersten Versuch gescheitert war, hat die von ihm geführte Partei dem Bundestag die nächste peinliche Premiere beschert: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik musste die Kür von Verfassungsrichtern abgesagt werden.
Während die SPD ihrer Wut auf Spahn nahezu freien Lauf lässt, wächst auch in der CDU der Ärger. Spitzenleute der Partei räumten gegenüber dem stern ein, dass Spahn mindestens fahrlässig gehandelt und damit die Lage mitverschuldet habe. Der frühere saarländische CDU-Ministerpräsident und Bundesverfassungsrichter Peter Müller sprach gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ offen aus, was viele bislang nur insgeheim sagen wollen: Es handele sich „um eklatantes Führungsversagen der Union“.
Die parteiinterne Kritik setzt früh und grundsätzlich an. Die Unionsfraktion sei seit Monaten beim Thema Richterwahlen getrieben worden, heißt es. Begonnen habe das Schlamassel bereits in der letzten Phase der vergangenen Wahlperiode unter Oppositionsfraktionschef Merz.
Als Ende November 2024 der Verfassungsrichter Josef Christ ausschied, waren CDU und CSU mit der Nachbesetzung dran. Sie schlugen Robert Seegmüller vor, einen hoch angesehenen Bundesverwaltungsrichter. Doch nachdem die Merz-Union gemeinsam mit AfD und FDP ihren Migrationsantrag gegen die Minderheitskoalition von SPD und Grünen durchgesetzt hatte, schlugen die Regierungsfraktionen zurück. Vor allem die Grünen sorgten dafür, dass der als stark konservativ geltende Seegmüller gar nicht erst zur Abstimmung kam. Der Posten in Karlsruhe blieb unbesetzt.
Nachdem Neuwahl und Regierungsbildung absolviert waren, setzte die Unionsfraktion unter Spahn auf den Bundesarbeitsrichter Günter Spinner, der selbst CDU-nahen Verfassungsrechtlern als zweite Wahl gilt. Dazu wurde mit der SPD vereinbart, dass parallel die zwei gerade frei werdenden Richterstellen neu besetzt werden. Die Sozialdemokraten nominierten Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold.
Allianz aus AfD und ultrarechten Medien
Spahn war einverstanden. Gemeinsam mit der SPD schlug die Unionfraktionsspitze die Dreier-Paketlösung den Grünen vor. Auch die Oppositionsfraktion stimmte zu. Damit stand die nötige Zweitdrittel-Mehrheit im zuständigen Wahlausschuss des Bundestags.
Dass aber für die spätere Wahl im Plenum auch Stimmen von Linke oder AfD benötigt würden, ignorierte Spahn offensiv weg. SPD und Grüne könnten gerne mit den Linken reden, hieß es aus der Union. Für die CDU gelte jedoch der Abgrenzungsbeschluss zu AfD und Linkspartei
Diese riskante Wird-schon-irgendwie-gutgehen-Taktik implodierte in dieser Woche öffentlich. Eine Allianz aus AfD, ultrarechten Medien und einigen katholischen Verbänden arbeiteten sich plötzlich an der liberalen Haltung von Brosius-Gersdorf zur Abtreibung ab. Spahn unterschätzte offenkundig die mehrgleisige Kampagne und den Widerstand, der dadurch in der eigenen Fraktion wuchs. Und auch Merz ließ die Angelegenheit größtenteils laufen.
Erst am Donnerstag wurde den beiden klar, dass die Abstimmung scheitern könnte. Doch wieder warteten sie zu, um dann am Freitagmorgen, eine knappe Stunde vor Beginn der Bundestagssitzung, die SPD um einen Aufschub der Wahl zu bitten.
Der damit entstandene Großschaden sorgt auch deshalb für Frust in der CDU, weil die von ihr geführte Regierung auf einem guten Weg sah. Der Haushalt in den Bundestag eingebracht, der „Investitionsbooster“ im Bundesrat beschlossen, viele wichtige Gesetze in der Pipeline: Das war das Signal, das Merz am Freitag bei seinem Auftritt in der Länderkammer zu senden versuchte. Ein Signal, mit dem die Partei in die Sommerpause gehen wollte.
Aber der Plan wurde durch die abgesagte Richterwahl zerstört. Stattdessen hat Spahn den schlechtesten Start eines Regierungsfraktionschefs in der Geschichte der Bundesrepublik komplettiert. Nach der beinahe versemmelten Kanzlerwahl wurde er von immer neuen Enthüllungen über seine Rolle bei den Maskengeschäften belastet – bis das Debakel vom Freitag sein Macher-Image vollends ruinierte.
Im Netz trendet „#SpahnRuecktritt“
Es wird einsamer um Spahn. Das gilt auch für die Medien. Die traditionell dem Fraktionschef gewogene „Bild“-Zeitung griff ihn so scharf wie noch nie an. „Dieses Desaster hat einen Namen: Jens Spahn“, titelte sie und fasst damit recht treffend die allgemeine Kommentarlage zusammen. Parallel dazu zitierte sie Zeitung „namhafte“, aber ungenannte Bundestagsabgeordnete, die darüber schimpften, dass Spahn nicht sofort die Vertrauensfrage in der Fraktion gestellt habe.
Die Gegner von ganz links bis Rechtsaußen haben sich sowieso warmgelaufen. Auf dem sozialen Kanal X trendet bereits das Schlagwort „#SpahnRuecktritt“. Gleichzeitig feiert sich dort die AfD für ihren nächsten Sieg über die etablierten Parteien.
Noch wird Spahn dadurch geschützt, dass er für Merz systemrelevant ist. Wenn er wackelt, wackelt der gesamte Laden. Auch ist bislang kein Kontrahent in der Fraktion nicht in Sicht. Spahn hat immer noch viele Anhänger in Fraktion und Partei, besonders unter den Jüngeren.
Hendrik Wüst solidarisierte sich am Samstag öffentlich. „Jens hat Demut gezeigt und Verantwortung übernommen“, sagte der CDU-Ministerpräsident von Spahns Heimatland Nordrhein-Westfalen. „Auch das ist politische Führung.“
Spahns letzte Chance?
Doch viel, wenn nicht sogar alles, dürfte davon abhängen, ob Spahn mit dem Koalitionspartner SPD in der knapp zweimonatigen Sitzungspause – oder bis zu einer möglichen Sondersitzung im August – ein mehrheitsfähiges Arrangement findet. Solange die Sozialdemokraten an ihrer Kandidatin Brosius-Gersdorf festhalten, dürfte dies nahezu unmöglich sein.
Für Spahn wird es also ein heißer Sommer. Er muss die eigene Fraktion einen, die SPD zum Einlenken bewegen, die Grünen vom Baum holen und die Linke einbinden, ohne den Abgrenzungsbeschluss infrage zu stellen – und dies mit lädierter Autorität auf einer teils zerstörten Vertrauensbasis.
Entsprechend hoch ist die Wahrscheinlichkeit des neuerlichen Scheiterns. In diesem Fall dürfte Merz den Strich unter die einfachste aller politischen Rechnungen ziehen: Schadet mir mein Fraktionschef mehr, als dass er mir nützt? Dann hätte Jens Spahn wirklich ein Problem.