
Viele Menschen, die Angela Merkel gut fanden, sind jetzt ziemlich enttäuscht von ihrer Altkanzlerin. Warum dies, wie so oft, auch ein westöstliches Missverständnis ist.
Die Altkanzlerin im karminroten Blazer, der Präsident im dunkelblauen Anzug und unter ihnen wie hingemalt die Donau mit dem schönen Budapest. Da stand also Angela Merkel mit Viktor Orbán und freute sich telegen über das Wiedersehen.
Merkel weilte in Budapest, um die ungarische Übersetzung ihrer Memoiren vorzustellen. Und weil sie gerade mal da war, schaute sie auch bei ihrem alten Bekannten Viktor vorbei. Nebenbei gab sie ein Interview, in dem sie referierte, dass die Polen und Balten zum Ende ihrer Amtszeit den Vorschlag für ein neues Gesprächsformat mit den Russen abgelehnt hätten – und dass danach, tja, der Krieg begonnen habe.
Nein, damit gab sie nicht, wie danach Pis bis „Bild“ behaupteten, den Polen eine Mitschuld am Krieg, zumal sie diese Sicht der historischen Dinge nicht das erste Mal kundgetan hatte. Doch ihre Wortwahl klang schon wie eine Insinuation.
Spätestens seitdem treibt ihre CDU, viele frühere Wähler und das politische Feuilleton bange Fragen um: Was ist nur mit Merkel los? Wieso sagt sie so etwas? Und warum trifft sie ohne Not einen Potentaten, der die Medien gängelt, Migranten verfolgt und nach eigener Aussage eine „illiberale Demokratie“ errichtet hat?
Insbesondere das liberale Bürgertum fremdelt. Es bringt die Altkanzlerin nicht mehr mit der alten Kanzlerin zusammen. Als beispielhaft für das diffuse Unwohlsein darf der Klageruf in der aktuellen „Zeit“ gelten: „Ist das noch unsere Merkel?“
Darauf fällt mir nur diese Antwort ein: Es war noch nie Eure Merkel! – übrigens genauso wenig, wie sie die Merkel Kohls oder der CDU war. Stattdessen bleib sie stets, jedenfalls in ihrem Kern, die Pfarrerstochter Angela Kasner, die in Hamburg geboren wurde und in Templin aufwuchs, die Klassenbeste war und alle abschreiben ließ, die der FDJ angehörte und nicht der SED beitrat, die Reiner Kunze las und Russisch in Donezk lernte. Sie lebte halb im System und halb an dessen Peripherie. Sie hatte sich, so wie die meisten Insassen der DDR, in einer Nische zwischen Anpassung und Abgrenzung eingerichtet, skeptisch gegenüber jedweden Ideologien.
Angela Merkel repräsentiert damit die innere Widersprüchlichkeit des ostdeutschen Wesens. Gleichwohl wollte sie ausdrücklich auch keine Merkel der Ostdeutschen sein, zumindest nicht als aktive Politikerin. So wie viele Neubundesbürger glaubte sie ihr Herkommen überdecken zu müssen, um Karriere machen zu können.
Erst kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit, am 3. Oktober 2021, in einer ausnahmsweise großartigen Rede, deutete Merkel an, welche Demütigungen zuweilen ihr Dasein mit sich brachte. Selbst im höchsten Regierungsamt wirkte sie noch wie eine Quereinsteigerin, die nicht ins parteipolitische Schema passte.
Allein war sie damit nicht. Wie alle DDR-Menschen, die es 1989 in die Politik verschlug, hatte sie sich erst ein neues Weltbild zusammenbasteln müssen. Eher zufällig war sie nach ihrem Spontaneintritt in den bürgerbewegten „Demokratischen Aufbruch“ in der CDU gelandet, wo sie, die ostdeutsche, 35-jährige Frau mit der belächelten Frisur, in wenigen Jahren das erreichen musste, wofür andere Dekaden in der Junge Union Zeit hatten.
Die besondere Ostdeutsche Angela Merkel
Zu ihren Kompetenzen gehörten die Naturwissenschaften, etwas Gebrauchsrussisch und die Erfahrung einer Diktatur, die nach der Selbstermächtigung einiger zehntausend Menschen binnen Wochen implodiert war. Hinzu kam, und das macht Merkel zu einer besonderen Ostdeutschen, das christliche Menschenbild, wie es ihr Vater gepredigt hatte, als er versuchte, Kirche und Realsozialismus miteinander zu versöhnen.
Dies alles wurde von westdeutschen Politikern nur selten verstanden. Auch deshalb unterschätzten sie Merkel, egal, ob sie nun Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble oder Friedrich Merz hießen. Sie staunten darüber, wie sie als Oppositionsführerin erst die Neoliberale und dann die Sozialdemokratin gab, wie sie als Kanzlerin erst die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängerte und dann noch stärker kürzte – und wie sie als CDU-Chefin erst den Multikulturalismus verdammte und dann die Grenzen offenließ. Ihre Schlussfolgerung: Merkel habe keinen Kompass und sorge sich allein um den eigenen Machterhalt. (Wenn die Herren selbst, wie zuletzt Merz, diametral ihre Positionen wechselten, war das natürlich notwendige Realpolitik.)
Aber ich will hier nicht den Erklärer von Angela Merkel geben, und schon gar nicht ihren Apologeten. Ich finde ihr Schäkern mit Orban ebenso unglücklich wie ihre zunehmende Selbstgerechtigkeit. Zudem kenne ich Merkel kaum aus persönlichen Begegnungen, sondern vor allem von öffentlichen Auftritten und dem, was über sie und von ihr berichtet wurde.
Die andere Pfarrerstochter
Aber ich kenne mich und viele Ostdeutsche. Und ich kenne eine andere Pfarrerstochter, die Klassenbeste war und in der FDJ. Sie ging als DDR-Pastorin in die SED-hörige Block-CDU, nur um 1990 in die westdeutsche Union gespült zu werden, wo sie mit großer Flexibilität, freundlicher Empathie, aber auch listiger Härte in Landeskabinett, Parlament und Partei diente, bis sie sich 2009, als die Thüringer CDU in ihrer bis dahin schwerste Krise war, plötzlich in der Erfurter Staatskanzlei wiederfand.
Christine Lieberknecht, so heißt die Frau, wurde auf diese Weise die erste Ministerpräsidentin der CDU, weshalb ich sogar ein Buch über sie schrieb. Stets verfolgte sie der Verdacht, eigentlich eine Sozialdemokratin zu sein, oder gar eine Linke, weil sie Bodo Ramelow ihren Freund nannte.
Dabei war die Politikerin Lieberknecht einfach ungefähr das, was die Politikerin Merkel war: pragmatisch, unideologisch und ja, auch recht beweglich, aber stets innerhalb eines christlichen und ja, teils konservativen Wertekorridors, der im Erfahrungsraum DDR geformt wurde. Zu diesem Wertekorridor gehörte auch die Fähigkeit, in alle Richtungen sprechfähig zu sein, mit dem Extremismus als Grenzlinie.
So wie Merkel, die, wie sich einst versprach, der CDU „nahesteht“, konnte die Zufalls-Christdemokratin Lieberknecht immer auch gut mit Sozialdemokraten, Linken und Grünen, und ja, auch mit Rechtskonservativen. Ihr Sprecher war über Jahrzehnte ein kluger Mann, der in ultrarechten Blättern veröffentlicht hatte und der Deutschen Gildenschaft angehört. Später, da war sie schon im Ruhestand, unterstützte sie den vergeblichen Thüringer CDU-Bundestagswahlkampf von Hans-Georg Maaßen und trat bei der Werteunion auf. Alles, was sich „im Rahmen des Verfassungsbogens“ befinde, müsse akzeptiert werden, sagte sie, was aber überhaupt nicht heiße, dass sie alles teile, was der Kandidat so sage.
Mit derselben Nonchalance, mit der die Ex-Ministerpräsidentin zwischen die Antipoden Ramelow und Maaßen mäanderte, bewegt sich die Altkanzlerin zwischen einem Jürgen Trittin, auf dessen politischer Abschiedsfeier sie redete, und einem Viktor Orbán.
Doch deren Merkel ist sie damit noch lange nicht. Sondern immer nur: Angela Merkel.