17. Juni 2025
Meinung: Ihr wollt mehr Gemeinschaft? Dann Kopfhörer runter. Jetzt!
Die Leute sind taub für andere, findet unsere Autorin. Kein Wunder, denn alle tragen ja dauernd Kopfhörer. Wer mehr Miteinander will, muss sie abnehmen. 

Die Leute sind taub für andere, findet unsere Autorin. Kein Wunder, denn alle tragen ja dauernd Kopfhörer. Wer mehr Miteinander will, muss sie abnehmen. 

Heute früh, kurz nach acht, da überfiel sie mich wieder, meine Wut auf Kopfhörer. Meine Enttäuschung über die, die sie tragen. Über all die verpassten Chancen, die damit zusammenhängen. 

Das ist passiert: Mehrmals pro Woche jogge ich durch ein kleines Naturschutzgebiet im Norden Hamburgs, heute Morgen war es malerisch: Die Luft noch kühl genug für rennende Menschen, aber schon mit dem Versprechen auf einen herrlich warmen Sommertag. Der Wind rauschte in alten Bäumen, ein mir gut bekannter Reiher klapperte mit dem Schnabel, die Frösche quakten im Waldsee. 

Kopfhörer bedeuten: Lass mich in Ruhe in meiner Welt

Dort halte ich also kurz an, strecke mich, schaue aufs Wasser. Kein Mensch da, außer mir und einer jungen Frau, sie schaut aufs Handy, sie trägt Kopfhörer. Ich unterhalte mich mit ihrem Hund: Na, Flauschi, was für ein Glück hast du, dass du hier einfach aus dem See trinken kannst. Ich hab auch Durst! Der Hund schaut mich an. Die Frau schaut aufs Handy. Sie hört nicht den Wind, nicht die Frösche oder den Reiher, nicht den kleinen Austausch zwischen mir und ihrem Tier. Denn sie trägt ja Kopfhörer und die bedeuten: Lass mich in Ruhe in meiner eigenen Welt, die nicht deine ist. 

Ich trabe weiter, winke noch dem Hund und denke: Wie bescheuert kann man sein, sich an einem solchen Morgen eine Hörbehinderung zuzufügen. Sich taub zu machen für das Hier und Jetzt. 

Die Frau am See zählt natürlich längst zur Mehrheit. Egal, ob man in der Bahn, im Bus, im Wartezimmer sitzt oder an der Supermarktkasse steht, gefühlt tragen neun von zehn Mitmenschen Stöpsel in den Ohren, die eine kluge Kollegin mal „Ohr-Schnuller“ nannte – wegen des (bei Säuglingen angemessenen) Verhaltens, sich ausschließlich für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu interessieren. 

Niemand kriegt es mit, wenn eine junge Obdachlose durch einen U-Bahn-Waggon taumelt und uns alle um Essen anbettelt (vorletzte Woche in der Hamburger U-Bahnlinie 1). Niemand kriegt es mit, wenn ich bei Edeka einen Witz mache (vergangenen Samstag legt eine Gruppe bestgelaunter Freundinnen die Zutaten für Pizza aufs Kassenband. Drei Flaschen Crémant. Und einen Rettich. Was habt ihr denn mit dem Rettich vor, Mädels?!) Gut, vielleicht war das ein schlechter Witz. 

Meine Bestürzung über die verbreitete Teilnahmslosigkeit aber bleibt: Es kann nicht gesund sein für eine Gesellschaft, dauerhaft einen der menschlichen Sinne abzuschalten und damit Kommunikation im öffentlichen Raum zu verhindern. Wir können nicht dauernd über den Zerfall der Gemeinschaft jammern und uns zugleich von ihr abkapseln, indem wir uns Parallelwelten auf die Ohren geben. Der Kopfhörer-Träger mag entspannt wirken, seine Botschaft aber ist aggressiv: Ich habe kein Interesse an fremden Menschen, neuen Ideen und unbekannten Situationen. Er verlässt die kollektive Hör-Welt und tritt in seinen privaten Raum ein, wo alles schön vertraut ist und stimmig mit dem eigenen Weltbild. Schalldichte Tür zu.

Ich liebe diese kurzen Begegnungen, die der Zufall uns ran schafft 

Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit Kopfhörern im öffentlichen Raum nicht nur seltener angesprochen werden; sie werden von anderen auch seltener mit nonverbalen Gesten bedacht: mit Stirnrunzeln am Gleis bei der „Wir bitten um Entschuldigung“-Durchsage, mit Augenrollen angesichts eines Dreijährigen mit Wutanfall und all den Blicken oder Seufzern, die sonst ein Gespräch einleiten. Ich liebe diese kurzen Begegnungen, die der Zufall uns ran schafft, wenn wir ihn lassen. Sie sind das Gemurmel einer Nachbarschaft, der Sound einer Stadt, die nicht-banale Verständigung ihrer Bewohner mit banalen Worten. Ich finde viel zu selten Gleichgesinnte.

Als 1980 der Walkman von Sony auf den Markt kam, gab es eine ähnliche Diskussion. Diese taube Jugend! Schon damals sahen Kommentatoren das „Ende der Aufklärung“ gekommen, Gesprächslosigkeit und Asozialität würden sich breit machen. Damals war der „auditive Privatraum“, wie die Soziologie das nennt, noch weitgehend den Jugendlichen vorbehalten. Heute ziehen sich Leute aller Altersgruppen in transportable Räume zurück, selbstverständlich jeder in seinen eigenen. 

Und das sei auch gut und richtig so, schrieb Sascha Lobo, der uns gern das digitale Zeitalter erklärt. Kopfhörer hätten den Friedensnobelpreis verdient, findet er, sie seien ein „soziales Wunder“, weil sie jeden Regionalexpress zu einem besseren Ort machen würden. Frieden schaffen ohne Waffen, sondern mit Kopfhörern. Sie seien das „Weltbewältigungsinstrument“ des 21. Jahrhunderts. Wer Kopfhörer trage, starte keine Angriffskriege. Naja.

Im „Trump Store“, der familieneigenen Merchandising-Maschine des US-Präsidenten, kann man jedenfalls goldene Earbuds mit Trump-Logo kaufen, für 35 Dollar. Und auch Putin wird durchaus mit Kopfhörern gesehen, nicht nur beim Schieß-Training. 

Und ja, mir ist vollkommen klar, dass die „splendid isolation“, die Lobo so feiert, manchmal entlastend und behaglich sein kann. Nach einem langen Arbeitstag mit hundert Meetings und tausend Gedanken will auch ich in der Bahn sitzen, Ohrschnuller rein, Playlist an. Ruhe, nuckel, nuckel. In Umfragen sagen Studentinnen, dass sie im öffentlichen Raum gern große und gut sichtbare Kopfhörer tragen, auch ohne etwas anzuhören – als Signal an alle Aufreißer und Mansplainer, mal die Klappe zu halten. Man könnte also kritisch fragen: Sind wirklich die Kopfhörer das Ding der Unmöglichkeit oder vielmehr unser übervoller Alltag und die durchgedrehte Welt, die das Ding erst nötig machen?

Was kommt dann wohl als nächstes: Die Brille, die die sichtbare Welt mit einem personalisierten KI-Filter überzieht? Ich sehe was, was du nicht siehst. Gibt’s schon längst, heißt Smart Glasses. 

Zuhören ist letztlich eine Form des Liebens

Ich wünsche mir, dass wieder mehr Menschen diese kleinen Alltags-Begegnungen zulassen, dass wir einander wieder mehr zuhören, im Sinne des Psychologen Erich Fromm, der meinte: Zuhören ist der Auftakt echter Begegnungen, letztlich eine Form des Liebens. Mir würde ja schon ein kleines Lächeln frühmorgens am See reichen, wenn ich mit einem Hund spreche.

Ein bisschen Hoffnung habe ich: Immer mehr Kopfhörer-Modelle haben einen Transparenzmodus, man kann also Podcasts und das quengelnde Kind oder die heran rauschende Straßenbahn zugleich hören. Elektromärkte melden außerdem eine steigende Nachfrage nach Open-Ear-Kopfhörern, die nicht den Gehörgang verstopfen, sondern am Schädelknochen anliegen, der den Klang zum Innenohr weiterleitet. Die eigene Welt und die Umwelt, glücklich vereint! Das wäre doch was. Ihr öffnet die Ohren, hebt den Blick. Und ich versuche, bessere Witze zu machen. Hört ihr mich?